Lieber Reto (1)
Aus der Reihe der «nie gesendeten E-Mails». In loser Folge (vielleicht) veröffentlichte Erinnerungen und Gedanken.
Lieber Reto.
Jetzt bist Du schon bald drei Jahre in Shanghai. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Du wolltest mich schon ein paarmal anrufen, aber die Zeitverschiebung, die vielen anderen Tätigkeiten… wer weiss, vielleicht hätten wir uns auch gar nicht so viel zu erzählen? Oder viel zuviel?
Gestern bin ich einkaufen gegangen und als ich da unter den Bäumen im warmen Schein der Sonne spazierte, kam mir unmittelbar die Erinnerung hoch.
Weisst Du noch, als wir kurz nach Lehrabschluss mit dem Zug nach Sizilien fuhren? War es im selben Jahr oder ein Jahr danach?
Du hattest eben den Führerschein gemacht (hast Du nicht deswegen den Termin für die Betrieb - LAP verpasst?) und wir wollten eigentlich in Palermo einen Wagen mieten. Wie gut, dass wir keinen gekriegt hatten! Man musste 21 Jahre alt sein, um Autos zu mieten. Wir wären wohl nicht weit gekommen in diesem Verkehrsmoloch Palermo. Dessen Lichtsignale meist ausgeschaltet waren und überall hupende Fiat und Alfa Romeos mit wild gestikulierenden Fahrern.
Aber eben die Erinnerung. Wir fuhren dann mit dem Zug von Palermo nach Agrigento im Süden. Nachdem wir in Agrigento das erste Mal im Mittelmeer baden konnten (ich habe mir damals die Füsse furchtbar an der Sonne verbrannt), sollte uns der Zug der FS (ein brauner Fiat-Doppeltriebwagenzug) nach Gela bringen. Aber in Aragona fuhr der verflixte Zug anstelle nach rechts gen Osten schnurstracks wieder geradeaus in Richtung Norden. Wir hatten den falschen Triebwagenzug erwischt und der fuhr zurück in Richtung Palermo.
Ich mag mich noch gut an die Reaktion des Capo Treno erinnern. In der Schweiz hätte man uns stillschweigend ein Billett mit «Irrfahrt» (einfache Fahrt, gültig zur schnellstmöglichen Rückfahrt) verkauft und uns noch den Fahrplan dazu gesagt. Aber der italienische Capo Treno… händeringend… «Ma perché! Perché non hanno domandato l'orario! E adesso, che faciamo? Mamma mia. Questa non è la Svizzera. Il prossimo treno? Io non lo so! Mamma mia!».
Am nächsten Bahnhof stiegen wir aus, ich versuche gerade mich anhand von Google Maps zu orientieren. War das wohl Comitini? Der Bahnhof ist heute nur noch eine Haltestelle, damals wurde gerade das Bahnhofbüro neu renoviert. Wir wunderten uns, weshalb so ein Kleinbahnhof mit Marmorböden ausgestattet wurde. Ja, damals wunderten wir uns
Der Bahnhofvorsteher liess uns das Gepäck im neuen Stationsbüro lagern. Auf die Frage, ob wir uns hier irgendwo verpflegen könnten, wies er uns den Weg den Geleisen entlang zu einem in der Ferne in der Mittagshitze flimmernden Gebäude mit grossen schattenspendenden Bäumen. Es war sicher schon über dreissig Grad, aber wir freuten uns auf ein kühles Getränk.
Als wir dort ankamen, waren wir erst enttäuscht. Es war kein Ristorante, eher ein Negozietto. Unter den Bäumen sass die Nonna und die Besitzerin, sie strickten und die Besitzerin hustete zwischendurch ganz wüst und spuckte dann irgendwohin. Auf unsere Frage, ob sie hier «Qualcosa da bere è panini» hätten, nickte sie nur, stand auf und ging in den Laden. Dort stand dann eine grosse Kühltruhe, welche uns je eine Büchse eiskalten Coca Cola versprach. Bei den Panini fragte uns die Donna nach Schinken oder Salami. Wir entschieden uns angesichts der eher prekären Verhältnisse (Fliegen, Temperatur) zu dem besser haltbaren Salami. Sie verschwand nach hinten. Das immer wieder gut hörbare Husten, gefolgt vom «Cha-Tschu» des Spuckens ignorierten wir unserem Hunger und Appetit zuliebe.
Sie kam dann mit den ganz gut aussehenden und riechenden Brötchen zurück. Wir bezahlten irgend einen lächerlich tiefen Preis in italienischen Liren und machten uns auf den Weg zurück zum Bahnhof. Die Panini waren köstlich, der Salami schmeckte gut und das Cola löschte den Durst auf dem staubigen, heissen Weg.
Am Bahnhof brachte dann unser Wunsch nach zwei Fahrkarten mit F.I.P.-Ermässigung (½-Preis) zurück nach Agrigento den lieben Bahnhofvorsteher schier um den Verstand. So viele Billette verkaufte der wohl nur in einem halben Jahr. Ich erinnere mich noch an die schwungvolle Schrift auf dem von Hand geschriebenen Zettelbillett. Und natürlich, dass die beiden Billette umgerechnet keine zwei Franken kostete.
Der irgendwann heranrumpelnde Zug brachte uns zurück zur Abzweigstation. Was wir dort erlebten, schreibe ich vielleicht irgendwann in einen Beitrag.
So, Reto, ich wünsche Dir weiterhin viel Erfolg und auch Spass im fernen Shanghai. Wer weiss, vielleicht telefonieren wir doch noch irgendwann einmal.
Dein Freund und Stifti-Kollege, Urs