Urs, unterwegs mit Urs
Nein, ich bin (vermutlich?) nicht schizophren…
Aber mit einem früher durchaus häufigen Vor-, und zudem mit einem auch relativ weit verbreiteten Nachnamen gesegnet. Meine Eltern waren sich nicht einig, sollte ich doch erst nach väterlicher (Un)Sitte Josef heissen. Aber auch das mütterlich gewünschte Georg, welches durchaus zu einem Schorsch (Gaggo) hätte werden können, setzte sich nicht durch.
Ah, wo war ich stehengeblieben… beim Urs! Mit dem ich unterwegs war, heute vor zwei Wochen am Samstag.
Darf ich vorstellen, das ist Urs Arbeitsplatz.
Aber wie kommt es, dass ich mit Urs unterwegs sein durfte?
Ich lernte Urs vor etlichen Jahren «kennen», per Mail! Da ich schon früher aus technischen Gründen meine E-Mailadresse in Form von «Vorname.Middle.Nachname» erhalten hatte, erbte Urs damals bei der Ausrüstung des gesamten Lokpersonals mit E-Mail die einfache Variante mit «Vorname.Nachname». Da ich häufiger an IT-Veranstaltungen teilnahm und man mich danach bespammte, bekam Urs jeweils die ganze Mail-Breitseite ab.
Zuverlässig, wie er nun mal war, leitete er die Mails jeweils an mich weiter und so kamen wir in Kontakt. Damit das nicht so trocken rüber kam, merkte er jeweils an, wo er unterwegs war. Oder, welche IT-Probleme ihn grad plagten. Diese E-Mail-Freundschaft kulminierte manchmal, wenn wir im Intranet Kommentare zu Beiträgen abgaben. Also wenn Urs zum Beispiel annahm, dass der Kommentar zu diesem Beitrag von Urs sei, aber in Wirklichkeit von mir, also Urs war. Es gibt nämlich noch einen Urs, der ebenfalls Lokführer ist. Der aber bei einer anderen Gewerkschaft als Urs ist. Im Unterschied zu mir, da ich nicht mehr in einer Gewerkschaft bin.
Irgendwann im Verlauf der vielen Mails, bot mir Urs an, mal mit ihm eine Fahrt zu unternehmen. Ich fand das einen sehr sympathischen Zug
Allerdings wollte ich nicht einfach nur von A nach B mitfahren, diese Gelegenheit hatte ich in meiner beruflichen Vergangenheit schon mehrmals gehabt. Ich wollte gerne auch die Gegebenheiten rundherum kennenlernen und habe ihn deshalb gebeten, ihn mal auf einer Tour zu begleiten. Also inklusive Vorbereitungsaufgaben etc.
Als ich Anfang Dezember nach den Ferien meine Mailbox durchackerte, lag da wieder mal eine weitergeleitete Mail im Briefkasten und darin fand ich zwei Angebote. Samstag, 9. Dezember am Vormittag oder am 23. Dezember am frühen Abend. Da ich eine Fahrt durchs Dunkle eher an einem lauen Sommerabend genossen hätte, entschloss ich Morgenmuffel mich für den 9. Dezember.
Urs hatte die Mitfahrt ganz korrekt angemeldet und bewilligt bekommen. Da ich als «Bähnler» eine gewisse Kundigkeit aufweise, musste die Fahrt nicht durch einen weiteren Begleiter ergänzt werden.
Da ich mich im Normalfall ja nicht mehr in Gleisnähe aufhalte, habe ich keine Schutzausrüstung. So holte ich mir bei unserem Facility-Management eine Warnweste, organisierte bei den Kollegen ein LEA (wow, wusste gar nicht, dass es da einen so gut ausgebauten Wikipedia-Artikel gibt) mit dem Fahrplan, stellte die guten Schuhe bereit und aktivierte auf iPhone und iPad je zwei Weckersequenzen (sicher ist sicher).
Pünktlich – 10 Minuten vor der Zeit, ist des Eisenbahners Pünktlichkeit, hiess es früher –, eher etwas überpünktlich, da es kräftig geschneit hatte, stand ich also in der Halle des Bahnhof Berns. Um 7:31 Uhr sollte es ab Gleis 3 mit einem Entlastungsschnellzug (IR) nach Domodossola gehen.
Der Führerstand war noch leer und die roten Lichter signalisierten, dass der Zug noch nicht bereit zur Abfahrt war. Einen Moment wurde ich unsicher, fuhr der ev. über das Gürbetal? Kaum, ich hatte ja im LEA nachgeschaut und da ging es via Aaretal nach Thun.
Da kam einer, ging auf den Führerstand. War das Urs? Ich wusste ja nicht einmal, wie er aussah. Nein, der sah von der Uniform her eher wie ein Zugbegleiter aus. Und tatsächlich, er legte nur den Lastzettel auf die Lok. Dann, da kam einer mit forschem Schritt und Rucksack auf mich zu. «Salut Urs! Salut Urs», so schaute ich dem Kollegen das erste Mal ins sympathische Gesicht.
Wir hatten nicht viel Zeit, der Zug musste ja noch aufgerüstet werden. Also setzte ich mich auf dem Stuhl neben dem Führerstand und guckte zu, wie Urs den Bordrechner bediente, die Zugdaten (Länge der Wagen) eingab, sich am Funk anmeldete und dann die Bremsen prüfte. Schon war das Ausfahrsignal auf Fahrt mit 40 Km/h (grün/gelb) und der Abfahrbefehl erreichte Urs per sicherer SMS.
Während sich der Zug 10051 von der Re 460 in der Zugmitte angetrieben, langsam aus dem Bahnhof schob, nahm ich den Ausweis, der mich zum Aufenthalt auf dem Führerstand berechtigte, in Empfang.
Und so ging es durch das frisch verschneite Aaretal zügig Thun entgegen. Die Signale kenne ich recht gut (mindestens die klassischen vom Typ L), da ich ja auch mal eine Prüfung ablegen musste. Aber mir war nicht bewusst, wie stark frischer Schnee die Sichtbarkeit von schlecht beheizten Signalen oder gar ortsfesten Geschwindigkeitstafeln beeinflusst. Da zeigt es sich die Wichtigkeit der Streckenkundigkeit, welche Lokführer und Lokführerinnen aufweisen und trainieren müssen.
Vor Frutigen erfolgte dann die Anmeldung am ETCS für die Fahrt mit Level 2 durch den Lötschbergbasistunnel. Urs erklärte mir die Anzeige auf dem Rechner, welche ihm die vorausliegenden Abschnitte und die Sollgeschwindigkeit vorgibt. Obwohl wir so viel Schub wie möglich gaben, kam der Zug aber in der leichten Steigung (3‰) nicht auf die vorgegebene Geschwindigkeit von 200 Km/h. Die Züge bringen bei Schnee wohl zu viel Feuchtigkeit in die warme Tunnelröhre und der Schienenzustand erlaubt es dann nicht, die volle Leistung der Re 460 auf die Schiene zu bringen.
So erhielt Urs nach kurzer Zeit einen Kontrollanruf von der Betriebszentrale, was denn los sei. Erst im letzten Drittel, wo es dann leicht nach unten geht, kamen wir auf die Sollgeschwindigkeit. Und schon hiess es Bremsen, da wir das Südportal bei Raron erreichten. Dort schoss nicht nur unser Zug aus dem Tunnel, sondern auch viel feuchte, warme Luft kondensierte in der Kälte. Mit rund 6 Minuten Verspätung erreichten wir Visp.
Ab Brig wurde es dann erneut sehr interessant. Der Simplontunnel ist ja schon fast historisch und da gab es neben der Tunnelstation in der Mitte mit einem Spurwechsel auch viel über die nachfolgende Strecke zu erzählen. Auf italienischem Gebiet wird die Infrastruktur von der Ferrovie dello Stato (FS), also heute von der Rete Ferroviaria Italiana (RFI) betrieben. Die Anlagen sind italienischer Bauart, nur die Signale sind Schweizer Bauart. Es gelten aber viele spezielle Vorschriften. So ist bei der Einfahrt in einen Tunnel, bei der Begegnung mit einem anderen Zug und in weiteren Sonderfällen ein Signal zu geben (Typhon/Makrofon). Zudem gibt es spezielle Signale für Hupac-Züge, welche auf dieser Strecke wegen nur eingleisig ausgebauter Eckhöhe jeweils nur auf einem der beiden Gleise fahren dürfen.
Auch die Einfahrt in Domodossola muss mit Vorsicht erfolgen, da in der Bahnhofmitte das Stromsystem von SBB (15 Kilovolt, 16 2/3 Hertz Wechselstrom) zu FS (3 Kilovolt, Gleichstrom) wechselt.
In Domodossola hatten wir eine knappe Stunde Pause und Urs fragte mich, ob ich auf den Markt wolle. Ich schloss mich jedoch ihm an und wir tranken kurz einen Kaffee und nutzten den Rest der Zeit unter anderem auch für einen Gang ins Personalzimmer und eine Toilettenpause, welche man ja als Lokführer nicht einfach mal so machen kann, sondern ein wenig einplanen muss.
Da wir so genügend Zeit hatten, zeigte mir Urs noch die Details der Re 460. Die Warnung, dass man im Maschinenraum nichts berühren darf, war nur zur Erinnerung. Ich bin in Sachen Starkstrom noch bestens im Bild und sehr vorsichtig.
Urs erklärte mir draussen nach einem Kontrollblick nach oben, dass der Stromabnehmer für die Fahrt durch den Lötschbergbasistunnel noch gewechselt werden müsse, um genügend Anpressdruck und eine störungsfreie Fahrt zu haben.
Ich durfte dann unter sorgfältiger Aufsicht von Urs den Zug aufrüsten. Eine Arbeit, die das Lokpersonal häufig unter Zeitdruck, aber immer sehr sorgfältig und in korrekter Reihenfolge durchführen muss. Ich muss sagen, dass ich grössten Respekt vor der Maschinerie vor mir hatte!
Zurück auf den Sessel nebenan und noch einen kurzen Schwatz mit dem Lokführer eines eben angekommenen Zuges und schon waren wir wieder unterwegs nach Norden in Richtung Brig.
Ab Brig fuhren wir den Zug als Leermaterialfahrt via Bern ins Weyermannshaus und wendeten ihn dort, um ihn zurück in den Bahnhof Bern für die Abfahrt zu bringen. Dort endete die Tour und ein neuer Lokführer übernahm den Zug.
Unterwegs kam ich wieder meiner Vergangenheit als Betriebsdisponent näher. Die Signale, das Beobachten des Fahrwegs nahmen mich so in den Bann, dass ich zwischendurch den Blick nach vorne richtig «wegreissen» musste. Ich genoss das ruhige Gespräch mit Urs. Über seinen Werdegang, wie er als kleiner Junge bei der Loktaufe der Ae 6/6 Langenthal das erste Mal auf einem Führerstand war bis zu seiner Zweitausbildung als Lokführer. Über die Veränderungen bei der Bahn im Zuge der Divisionalisierung und seinen Wechsel von SBB Cargo zum Personenverkehr. Oder über die gemeinsame Abneigung gegen Frühdienste, warum ich Betriebsdisponent und nicht Lokführer wurde und viele weitere Dinge
Sicher half, dass wir in ähnlichem Alter sind, eine Lebenserfahrung haben… und beide Urs heissen
Es war ein wirklich schöner Tag und die Gelegenheit, wieder etwas «Bahnnähe» zu schnuppern und einen sehr netten, aufgeschlossenen Kollegen und Menschen kennenzulernen.
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